Nachschlag: Die erste große Replikationsstudie in der Sportwissenschaft bestätigt die Befürchtungen
Auch im Sport ist der Effekt oft nur ein Phantom
Im Beitrag zur Replikationskrise, „Fundamente aus Sand", argumentierte ich, dass wir systematische Verzerrungen nicht nur in der Psychologie oder Medizin sehen, sondern in weiten Teilen der empirischen Wissenschaft. Nun gibt es eine weitere eindrucksvolle Bestätigung: Die erste groß angelegte Replikationsstudie im Bereich der Sport- und Bewegungswissenschaften ist erschienen. Sie zeigt, dass auch hier viele Effekte nicht halten, was sie versprechen – und dass manche von ihnen bereits den Weg in die Praxis gefunden haben.
Die Studie von Murphy et al. (2025)
Ein großes internationales Team um Jennifer Murphy hat eine systematische Replikation von 25 Studien durchgeführt, die zwischen 2016 und 2021 in hochrangigen Q1-Journalen der Sportwissenschaft publiziert wurden. Das Projekt wurde transparent organisiert: Alle Replikationen wurden vorab registriert, um p-Hacking oder selektives Berichten zu verhindern, und sämtliche Daten und Analysen wurden offengelegt.

Die Ergebnisse sind ernüchternd und bestätigen viele Befürchtungen über den Zustand der Forschung in diesem Feld:
Geringe Replikationsrate: Nur 7 der 25 Studien (28 %) konnten erfolgreich repliziert werden.
Massiv überschätzte Effekte: In 88 % der Fälle war der in der Replikation gefundene Effekt kleiner als im Original.
Dramatischer Rückgang der Effektgröße: Der mediane Rückgang der Effektgröße lag bei 75 %.
Mangelnde Transparenz der Originalautoren: Von 156 kontaktierten Autorenteams stellten nur 14 % ihre Rohdaten zur Verfügung.
Schlechte Berichtsstandards: In vielen Originalarbeiten fehlten grundlegende Informationen wie Teststatistiken, Freiheitsgrade oder Effektgrößen.
Drei Beispiele, die es in die Praxis geschafft haben
Besonders brisant wird es, wenn man sich Studien ansieht, deren Ergebnisse bereits in Trainingsempfehlungen oder Produktwerbung eingeflossen sind.
1. Koffein macht Sprünge höher?
Eine Studie von Venier et al. (2019) berichtete, dass koffeinhaltige Kaugummis die Sprunghöhe und Kraft bei trainierten Männern steigern (Effekt: d=1.51). Die Replikation fand jedoch nur noch einen kleinen, statistisch nicht signifikanten Effekt von d=0.31.
Trotzdem hat sich die Idee verfestigt. Die Website MySportScience bewirbt koffeinhaltiges Kaugummi als "lebensfähige Option neben traditionellen Koffeinformen" für Athleten. Ein kanadischer Chiropraktiker schreibt in seinem Blog: "Koffeinhaltiges Kaugummi verbesserte die Sprunghöhe um 3,6%" und empfiehlt es aktiv für die Praxis. Sportmagazine berichten regelmäßig über die "erwiesenen Vorteile" für Kraft und Ausdauer, ohne die gescheiterten Replikationen zu erwähnen.
2. ATP-Supplementierung für mehr Kraft?
Freitas et al. (2019) kamen zu dem Ergebnis, dass eine Dosis ATP vor dem Training die Leistung steigert (Effekt: d=1.08). Die Replikation ergab einen verschwindend geringen Effekt von d=0.18.
Dennoch wird ATP als leistungssteigerndes Supplement vermarktet. Die Firma TSI Group bewirbt auf ihrer "Key Benefits"-Seite ihr "PEAK ATP®" mit Claims wie "increases strength and power" und "improves muscular endurance". Die "About"-Seite verspricht "increased number of reps and total work" mit "24% mehr Gesamtarbeit über Placebo". Auch deren Optimierungsratgeber preist "improvements in muscle endurance, strength retention between sets" an – ohne Erwähnung der fehlgeschlagenen Replikationen.
3. Kompressionskleidung verändert Bewegungsmuster?
De Britto et al. (2017) fanden, dass Kompressionskleidung die Kinematik bei Landungen positiv beeinflusst (Effekt: d=0.65). Die Replikation fand sogar einen Effekt in die entgegengesetzte Richtung (d=−0.44).
Auch hier ist der Befund in der Praxis angekommen. McDavid bewirbt Kompressionskleidung mit "Top 10 Benefits" und behauptet, sie "reduziere Muskelschwingungen und verbessere die Leistung". UPMC HealthBeat schreibt: "Kompressionskleidung hat tatsächliche Vorteile für erhöhte Leistung und Verletzungsprävention." Das Lower Extremity Review Magazine berichtet, dass über 70% der Athleten "Leistungsverbesserungen wahrnahmen" – ein klassischer Fall von Wahrnehmung versus Realität.
Fazit
Diese Nachreplikationen zeigen erneut: Einzelstudien, insbesondere solche mit kleinen Stichproben und scheinbar großen Effekten, sind nicht das letzte Wort. Sie sind bestenfalls ein Anfang – und im schlechtesten Fall schlicht falsch oder ein statistischer Zufallstreffer. Dass solche Ergebnisse bereits in Produktwerbung, Trainingspraxis und Gesundheitsratgebern landen, bevor ihre Robustheit auch nur ansatzweise geklärt ist, gehört zum Kern des Problems.
Wichtiger Hinweis: Die hier genannten Unternehmen und Plattformen haben durchaus versucht, wissenschaftsbasiert zu arbeiten und sich auf publizierte Studien zu stützen. Das Problem liegt nicht in böser Absicht, sondern darin, dass die ursprünglichen Studien – wie sich jetzt zeigt – nicht replizierbar waren. Dies illustriert, warum wir als Gesellschaft bessere Mechanismen brauchen, um zwischen robusten und fragilen Forschungsergebnissen zu unterscheiden, bevor sie in die Praxis umgesetzt werden.
Die Replikationskrise ist kein rein akademischer Selbstzweck. Sie hat handfeste Konsequenzen für öffentliche Empfehlungen, für Produkte, für unser Verhalten – und letztlich für unsere Vorstellung davon, was „die Wissenschaft" sagt.
Murphy, J., et al. (2025). Estimating the Replicability of Sports and Exercise Science Research. Sports Medicine. https://doi.org/10.1007/s40279-025-02201-w
Zur Erinnerung: Den ausführlichen Artikel zur Replikationskrise gibt es hier → „Fundamente aus Sand".