Odyssee ohne Argos: Der IAT als moderner Mythos
Wissenschaftliche Grenzen eines populären Diagnoseinstruments
TLDR: Der Implicit Association Test (IAT) verspricht, verborgene Vorurteile objektiv messbar zu machen und ist deshalb populär in Diversity-Trainings. Wissenschaftlich ist er jedoch umstritten: Die Ergebnisse sind instabil, erklären Verhalten kaum und bieten selten wirklich nützliche Erkenntnisse für die Praxis. Organisationen sollten den IAT kritisch sehen und sich nicht auf schnelle Lösungen verlassen.
Stellen Sie sich vor: In nur zehn Minuten konfrontiert Sie ein Test mit dem Ergebnis, dass Sie eine "starke automatische Präferenz" für Menschen einer bestimmten Hautfarbe haben. Keine Ausreden mehr möglich, denn Ihre Reaktionszeit wird als objektiver Beweis präsentiert. Die verstörende Botschaft: Sie könnten ein unbewusster Rassist sein, ohne je bewusst rassistisch gedacht oder gehandelt zu haben.
Genau dieses Erlebnis vermittelt der Implicit Association Test (IAT), und genau dieses Versprechen einer schnellen Diagnose hat zu seinem kometenhaften Aufstieg geführt. Seit seiner Einführung 1998 hat er sich vom Laborinstrument zum globalen Phänomen entwickelt: über 600 wissenschaftliche Artikel, Millionen Online-Tests und verpflichtende "Unconscious-Bias-Trainings" bei Google, der US-Armee und zahlreichen DAX-Konzernen. Die Verlockung ist offensichtlich: Ein kurzer, scheinbar objektiver Test soll jene verborgenen Vorurteile enthüllen, die unsere Entscheidungen lenken, bevor wir überhaupt bemerken, dass wir eine Wahl treffen.
Auch an deutschen Universitäten ist der IAT ausgesprochen beliebt, wie eine (kurze) Internetrecherche zeigt.
Doch diese Faszination hat einen blinden Fleck. Je genauer man hinschaut, desto brüchiger erscheint das wissenschaftliche Fundament: schwankende Messgenauigkeit, fragwürdige Validität und bestenfalls schwache Zusammenhänge mit tatsächlichem Verhalten. Dennoch bleibt der IAT das Aushängeschild der Diversity-Trainings – oft ohne dass seine gravierenden Grenzen offen kommuniziert werden.
Das Konstrukt „Implicit Bias“
Was sind „implicit biases“?
Unter impliziten Vorurteilen (engl. implicit biases) versteht man automatische, meist unbewusste Assoziationen oder Stereotype, die unser Denken und Handeln beeinflussen können, auch dann, wenn wir uns selbst als vorurteilsfrei erleben. Die Grundidee: Selbst Menschen mit ausdrücklich egalitären Überzeugungen können Vorannahmen in sich tragen, die unterhalb der bewussten Ebene wirksam werden – etwa in spontanen Einschätzungen, schnellen Entscheidungen oder der Interpretation ambivalenter Situationen.
Ein Beispiel: Eine Führungskraft erhält zwei Bewerbungen mit identischem Lebenslauf. Einziger Unterschied: der Vorname. „Maximilian“ wird spontan als kompetenter eingeschätzt als „Mohammed“. Nicht, weil die Führungskraft rassistisch denkt, sondern weil sie – so die Theorie – kulturell gelernte Stereotype automatisch aktiviert, ohne es zu wollen oder zu bemerken.
Solche impliziten Verzerrungen werden oft als tiefer liegende, stabile Schicht der Persönlichkeit verstanden, im Unterschied zu bewussten, reflektierten Einstellungen. Sie sollen nicht leicht veränderbar sein und sich zuverlässig durch Tests wie den Implicit Association Test (IAT) messen lassen (Gawronski et al., 2017).
Doch diese Sichtweise ist zunehmend umstritten. In der wissenschaftlichen Literatur werden fünf zentrale Kritikpunkte diskutiert:
Zentrale Kritikpunkte am Konstrukt
1. Konzeptuelle Unschärfe:
Der Begriff ist erstaunlich unscharf. Gemeint sein könnten unbewusste Prozesse, automatisierte Reaktionen, nicht-intendierte Vorannahmen oder alles zugleich. Die Trennlinie zur bewussten Einstellung verschwimmt (Corneille & Hütter, 2020). Das macht das Konzept schwer operationalisierbar und empirisch instabil.
2. Fehlende Eigenständigkeit:
Viele angeblich implizite Effekte stehen in engem Zusammenhang mit expliziten Einstellungen oder lassen sich durch sozial erwünschtes Antwortverhalten erklären. In Meta-Analysen liegt die Korrelation zwischen impliziten und expliziten Maßen je nach Thema zwischen r ≈ .10 und .60 – mal also sehr schwach, mal überraschend stark (Kurdi et al., 2019). Das spricht gegen die Idee einer tiefen, separaten Vorurteilsschicht.
3. Zusammenhang mit Verhalten:
Hier liegt eine der größten Enttäuschungen: Selbst wenn man einen Bias im Test misst, zeigt sich im Alltag oft kein entsprechendes Verhalten. Die durchschnittliche Korrelation zwischen IAT-Werten und diskriminierendem Verhalten liegt laut Forscher et al. (2019) bei r ≈ .10–.20 – das ist ein sehr schwacher Effekt.
4. Alternative Erklärungen:
Eine plausible Gegenhypothese: Der IAT misst nicht „deine“ Einstellung, sondern dein Wissen über gesellschaftliche Stereotype – also das, was du über Vorurteile gelernt hast, unabhängig davon, ob du sie teilst (Gawronski et al., 2017). Andere Forschende weisen darauf hin, dass die gemessenen Effekte auch durch Teststrategie, Tastenzuweisung oder Ablenkung entstehen können – also methodische Artefakte (Machery, 2022; Schimmack, 2021).
5. Kritische Stimmen in der Forschung:
Zahlreiche Wissenschaftler*innen (u. a. Corneille & Hütter, 2020; Machery, 2022) kritisieren, dass das Konstrukt „implicit bias“ oft überdehnt und unpräzise verwendet wird. Sie fordern eine genauere theoretische Fundierung und mehr empirische Belege für die tatsächliche Bedeutung dieser unbewussten Vorurteile.
Warum wir uns damit beschäftigen müssen
Implicit Bias ist eher eine akademische Frage und Diskussion, aber es ist der damit assoziierte Test (IAT), der das Thema aus der Forschung in die Praxis geholt und so in den Alltag und organisationale Praxis gebracht hat.
Der IAT hat dazu geführt, dass die Idee der „implicit biases“ nicht mehr nur wissenschaftlich diskutiert wird, sondern heute das Diversity- und Trainingsgeschäft weltweit beeinflusst. Was einst als Forschungsinstrument konzipiert war, hat sich zu einem populären Diagnose- und Sensibilisierungstool entwickelt – und wird in Unternehmen, Organisationen und Bildungseinrichtungen oft unkritisch und ohne klare Einordnung eingesetzt.
Die Entstehung und Ausbreitung des IAT
Der Implicit Association Test (IAT) wurde 1998 von Anthony Greenwald und Kolleg*innen entwickelt. Ursprünglich ein Werkzeug für die Sozialpsychologie, entwickelte sich der IAT schnell zum internationalen Phänomen: Seit dem Jahr 2000 sind über 600 wissenschaftliche Publikationen zum IAT erschienen (Nelson & Zippel, 2021).
Bemerkenswert ist die rasante Expansion in den nicht-wissenschaftlichen Bereich. Spätestens mit Googles „Unconscious Bias @ Work“-Initiative ab 2013 explodierte die Popularität des IAT: Die Zahl nichtwissenschaftlicher Artikel zum Thema schnellte von unter 200 auf über 1000 hoch (Nelson & Zippel, 2021). Unternehmen wie Google begannen, tausende Mitarbeitende und Führungskräfte mithilfe von IAT-basierten Trainings für unbewusste Vorurteile zu sensibilisieren.
Der Grund für diese Verbreitung liegt auf der Hand:
Der IAT verspricht eine einfache, objektive Diagnose eines schwer greifbaren Problems – und bietet scheinbar klare Interventionsmöglichkeiten.
Er liefert Unternehmen und Organisationen einen „Hebel“, um sich dem Thema Diskriminierung zu widmen, ohne an strukturellen Ursachen ansetzen zu müssen.
Die Tests wirken modern, neutral und wissenschaftlich legitimiert – und sind online für alle leicht zugänglich.
Wie Zippel und Nelson (2021) zeigen, ist es genau diese Mischung aus Zugänglichkeit, scheinbarer Objektivität und der Illusion einfacher Lösungen, die den IAT so attraktiv macht: Er suggeriert, dass man unbewusste Diskriminierung mit ein paar Mausklicks aufdecken und vielleicht sogar einfach „wegtrainieren“ kann.
Hinweis zur Einordnung: Dieser Artikel fokussiert sich primär auf die Anwendung und Aussagekraft des IAT auf individueller Ebene, insbesondere im Kontext von Trainings und Personalentscheidungen. Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur eine fortlaufende Diskussion darüber, ob der IAT auf aggregierter Ebene (z.B. für regionale oder zeitliche Vergleiche impliziter Einstellungen) nützlich sein könnte. Jüngste Forschung (siehe auch Axt et al., 2025) deutet darauf hin, dass auf aggregierter Ebene Zusammenhänge zwischen IAT-Werten und gesellschaftlichen Phänomenen bestehen können, wenngleich die kausalen Zusammenhänge weiterhin unklar bleiben.
Wie der IAT funktioniert
Der Implicit Association Test (IAT) ist im Kern ein Computer-basiertes Reaktionszeittestverfahren. Die Teilnehmenden sehen Bilder (z. B. von Menschen verschiedener Hautfarben) und Wörter mit positiver oder negativer Bedeutung. Aufgabe ist es, die gezeigten Stimuli möglichst schnell bestimmten Kategorien zuzuordnen.
Zur Veranschaulichung: In einem häufig verwendeten IAT-Szenario sehen Sie Bilder von weißen und schwarzen Personen sowie positiv und negativ konnotierte Wörter.
Im ersten Durchgang werden Sie gebeten, Bilder weißer Personen und positive Wörter mit derselben Taste zu kategorisieren (z.B. "E"), während Bilder schwarzer Personen und negative Wörter mit einer anderen Taste (z.B. "I") kategorisiert werden. Nach etwa 80 Durchgängen werden die Regeln getauscht: Jetzt müssen Sie schwarze Personen mit positiven Wörtern und weiße Personen mit negativen Wörtern verbinden. Die Software misst Ihre Reaktionszeiten in Millisekunden für beide Durchgänge.
Sind Sie im ersten Block (weiß + positiv) schneller als im zweiten (schwarz + positiv), wird ein positiver Bias-Score berechnet.
Sind Sie im zweiten Block schneller, ein negativer Bias-Score.
Gibt es keinen Unterschied, ergibt sich ein Bias-Score nahe Null.
Die Grundannahme:
Es ist kognitiv leichter, vertraute Assoziationen (z. B. „weiße Person – freundlich“) schneller abzurufen als ungewohnte („schwarze Person – freundlich“), wenn solche Stereotype im kulturellen Umfeld verankert sind. Das Delta der Reaktionszeiten soll als „automatische Präferenz“ interpretiert werden.
Der Test ist im Internet, etwa bei der Harvard Universität, für jeden zugänglich und dauert ca. 10 Minuten. Das persönliche Ergebnis klingt oft überraschend konkret: „Starke automatische Bevorzugung von hellhäutigen gegenüber dunkelhäutigen Menschen“ (IAT Corp).
Aber funktioniert das auch?
Wissenschaftliche Kritikpunkte am IAT
Zusätzlich zu der grundlegenden Kritik am Konzept der „impliziten Vorurteile“ bringt der IAT als Messinstrument eigene Probleme mit sich. Selbst wenn man vorübergehend akzeptiert, dass automatische Assoziationen psychologisch bedeutsam sind, stellt sich die Frage: Kann man sie verlässlich messen? Der IAT erhebt genau diesen Anspruch – und ist gerade deshalb ins Zentrum der Kritik geraten.
Auf den ersten Blick wirkt der IAT wie ein elegantes Instrument: Mit ein paar Tastendrücken offenbart er angeblich unsere tief verborgenen Vorurteile – jene impliziten Assoziationen, von denen wir selbst nichts wissen, die aber unser Verhalten beeinflussen sollen. Doch der wissenschaftliche Blick hinter die Fassade offenbart ein Instrument, das bei genauerem Hinsehen erheblich wackelt – in seiner Zuverlässigkeit, seiner theoretischen Grundlage und seiner praktischen Aussagekraft.
Beginnen wir mit der Frage der Reliabilität, also der Messgenauigkeit. Ein Test, der stabile psychologische Eigenschaften erfassen soll – wie eben „automatische Präferenzen“ –, müsste bei wiederholter Durchführung vergleichbare Ergebnisse liefern. Doch genau das gelingt dem IAT nur eingeschränkt. Studien zeigen Korrelationen zwischen zwei Testdurchgängen von r = 0,41 bis maximal 0,64 (Gawronski et al., 2017).
Methodeninfo: Was bedeutet "r" in diesem Artikel?
"r" steht für den Korrelationskoeffizienten – ein Maß dafür, wie stark zwei Variablen zusammenhängen. Im Kontext des IAT zeigt es beispielsweise an, wie stark die Testergebnisse bei der selben Person miteinander übereinstimmen.
r = 1.00 → perfekter positiver Zusammenhang, r = 0.00 → kein Zusammenhang,r = –1.00 → perfekter negativer Zusammenhang
Ein Vergleich dazu wäre, wenn Sie auf eine Waage treten und diese heute den Wert 74kg, morgen 90kg, übermorgen 81kg und den Tag danach 61kg anzeigt. Und das, obwohl das eigentliche Geswicht stabil bei 73 kg liegt.
Das klingt nach Mittelmaß – und ist es auch. In der psychologischen Diagnostik gelten solche Werte als unzureichend, um verlässliche Aussagen über Einzelpersonen zu treffen. Eine so unzuverlässige Waage würden wir vermutlich auch nicht verwenden. Schon kleine Veränderungen, z.B. Tagesform, Konzentration, Erfahrung mit dem Testformat, können das Ergebnis messbar beeinflussen. Selbst die Betreiber des IAT schreiben: „Sie werden merken, dass sich Ihr Ergebnis beim nächsten Mal verändert.“ Ein bemerkenswert ehrlicher, aber wenig vertrauensbildender Hinweis für ein Tool, das in vielen Trainings mit dem Anspruch auf Objektivität eingesetzt wird.
Doch selbst wenn der IAT perfekt messen würde, es bliebe die Frage: Was misst er eigentlich? Misst er wirklich „unbewusste Vorurteile“? Oder misst er vielmehr kulturelles Wissen, also das, was Menschen über gesellschaftliche Stereotype gelernt haben, unabhängig davon, ob sie diese teilen? Oder misst er schlicht, wie gut jemand mit wechselnden Tastenzuweisungen umgehen kann?
Diese Frage nach der Validität – der inhaltlichen Aussagekraft – ist alles andere als geklärt. Die Literatur spricht hier von einem „Konstrukt in der Krise“. Forscher wie Corneille & Hütter (2020), Machery (2022) oder Schimmack (2021a, b) kritisieren, dass das Konstrukt der „impliziten Vorurteile“ häufig überdehnt wird: mal meint es Unbewusstes, mal Automatisches, mal Nicht-Intentionales – selten aber etwas klar Abgrenzbares. Und wenn ein Konstrukt nicht klar definiert ist, lässt sich schwer sagen, ob es überhaupt sinnvoll messbar ist.
Noch schwerer wiegt jedoch ein drittes Problem: Die geringe Vorhersagekraft für Verhalten. Denn selbst wenn der IAT zuverlässig wäre und genau das messen würde, was er verspricht – es müsste immer noch einen Zusammenhang geben zwischen dem Testergebnis und dem, was Menschen tatsächlich tun. Doch genau dieser Zusammenhang ist schwach bis kaum nachweisbar. Die besten Schätzungen aus der Forschung – etwa von Greenwald, Oswald, Forscher oder Kurdi – bewegen sich im Bereich von r = 0,09 bis 0,27. Das ist, selbst unter wohlwollender Interpretation, ein minimaler bis kleiner Effekt. Praktisch bedeutet das: Der IAT erklärt kaum Unterschiede im Verhalten, etwa im Umgang mit Kolleg*innen, im Bewerbungsgespräch oder im Alltag.
Noch problematischer wird es, wenn man sich ansieht, ob sich durch Trainings oder Interventionen überhaupt etwas verändert – und ob diese Veränderungen sich dann im Verhalten niederschlagen. Eine große Meta-Analyse von Forscher et al. (2019) mit fast 90.000 Teilnehmenden zeigt: Zwar lassen sich IAT-Werte in vielen Fällen durch Trainings kurzfristig verändern, aber diese Veränderung bleibt folgenlos. Es gibt keinen belastbaren Nachweis, dass Menschen sich nach einem gesunkenen Bias-Score im IAT diskriminierungsärmer verhalten.
Das stellt eine fundamentale Frage an die Praxis: Warum investieren Organisationen Zeit, Geld und Glaubwürdigkeit in einen Test, dessen Ergebnisse weder stabil noch eindeutig noch praktisch relevant sind?
Die Antwort liegt weniger in der Forschung als in einem verbreiteten Bedürfnis nach einfachen Lösungen: Der IAT bietet ein einfaches Narrativ. Er verspricht, ein komplexes gesellschaftliches Problem, nämlich Diskriminierung, auf eine individuell messbare Größe herunterzubrechen. Das ist attraktiv. Es klingt modern, datenbasiert, wissenschaftlich legitimiert. Aber es ist, mit Blick auf die aktuelle Forschung, ein Trugschluss.
Was bleibt vom „unbewussten Vorurteil“ und vom IAT?
Was bleibt, wenn wir die Forschungslage nüchtern betrachten?
Das Konstrukt der impliziten Vorurteile ist weniger robust, weniger eindeutig und weniger nützlich für die Praxis, als es oft erscheint. Was als „tief sitzende, unbewusste Triebkraft“ verkauft wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Sammelbegriff für Prozesse, die wir nur schwer greifen, messen und beeinflussen können. Die Grenze zwischen „implizit“ und „explizit“ ist unscharf; viele angebliche Effekte lassen sich durch kulturelles Wissen, Testmethodik oder bewusste Einstellungen erklären.
Der Implicit Association Test wiederum ist zwar populär, aber kein Instrument, das zuverlässige oder gar diagnostisch verwertbare Aussagen über Einzelpersonen liefert. Sein Ergebnis schwankt, misst oft nicht das, was es zu messen vorgibt, und hat einen nachweisbar geringen Zusammenhang mit realem Verhalten. Interventionen, die sich am IAT oder am Konstrukt „implizite Vorurteile“ ausrichten, zeigen kaum verlässliche Effekte auf diskriminierungsrelevantes Verhalten.
Praxislücke und unbeabsichtigte Nebenwirkungen
Trotz massiver wissenschaftlicher Kritik bleibt der IAT in der Praxis äußerst beliebt. In den USA wurden allein 2018 rund acht Milliarden Dollar für organisationale Diversity-Trainings ausgegeben, ein Betrag, der nach dem Tod von George Floyd 2020 noch einmal deutlich stieg (Lipman, 2018; Tyson, 2021). Abnehmer solcher Trainings sind nicht nur Unternehmen, sondern auch Behörden, die US-Armee und zahlreiche Universitäten (Machery, 2022).
Diese Verbreitung steht in einem krassen Gegensatz zur Forschungslage. Es fehlt an belastbaren Belegen für die Wirksamkeit IAT-basierter Maßnahmen, und der Test selbst ist mit erheblichen methodischen Problemen behaftet. Dennoch werden große Ressourcen in Instrumente investiert, deren Nutzen fraglich bleibt – eine Entwicklung, die auch ethische Fragen aufwirft.
Hinzu kommen potenzielle Nebenwirkungen: Teilnehmende an IAT-basierten Trainings können durch zweifelhafte Diagnosen verunsichert oder demotiviert werden, etwa, wenn ihnen ein starker Bias attestiert wird, der real gar nicht existiert. Umgekehrt kann ein scheinbar „neutraler“ Befund dazu führen, dass Menschen ihre Bereitschaft zur weiteren Auseinandersetzung verlieren. Es gibt Hinweise darauf, dass verpflichtende Trainings sogar kontraproduktive Effekte haben können, indem sie Widerstände verstärken oder Konflikte verschärfen (Sanchez & Medkik, 2004). Auch wurde gezeigt, dass Kontrollinterventionen zu einer Zunahme rassistischer Ressentiments führen können (Legault et al., 2011).
Ein weiteres Problem: Der Fokus auf mutmaßlich implizite Vorurteile lenkt häufig von strukturellen Ursachen von Diskriminierung ab. Statt grundlegende Veränderungen in Organisationen zu fördern, begnügt man sich zu oft mit scheinbar einfachen Lösungen auf individueller Ebene.
Angesichts dieser Schwächen muss kritisch hinterfragt werden, ob der verbreitete Einsatz des IAT tatsächlich zur Reduktion von Diskriminierung beiträgt – oder ob Ressourcen und Energie an einer Stelle gebunden werden, die wenig bewirkt und im schlimmsten Fall sogar Schaden anrichtet.
Fazit: Eine Odyssee mit offenem Ende
Angesichts der beschriebenen Lücke zwischen wissenschaftlicher Evidenz und verbreiteter Praxis bleibt festzuhalten: Der IAT leidet unter mangelnder Reliabilität, fragwürdiger Validität und geringer Vorhersagekraft für tatsächliches Verhalten. Noch fundamentaler ist die Kritik am Konstrukt "implicit bias" selbst, dessen Existenz und Definition umstritten sind.
Trotz dieser wissenschaftlichen Probleme erfreut sich der IAT in der Praxis großer Beliebtheit und wird in zahlreichen Organisationen eingesetzt. Dies zeigt eine beunruhigende Diskrepanz zwischen Forschung und Anwendung, die kritisch hinterfragt werden sollte.
Organisationen sollten sich nicht von guten Vorsätzen in blinden Aktionismus treiben lassen oder aus monetären Gründen Diversity-Trainings nur deshalb abhalten, weil diese nach außen hin die Organisation in einem positiven Licht erscheinen lassen. Vielmehr gilt es, gegenüber Lösungen, die schnelle Verhaltensänderungen mit einfachen Methoden versprechen, ausgesprochen skeptisch zu bleiben und entsprechende Evidenz sowohl aus der wissenschaftlichen Literatur als auch in der praktischen Umsetzung zu verlangen.
Die Odyssee des IAT dauert an, doch im Gegensatz zu Homers Epos zeichnet sich hier kein Heimkehren ab. Stattdessen wandert der IAT weiter durch die Welten von Unternehmen und Trainings, während die Wissenschaft zunehmend klarstellt: Dieses Instrument kann die Erkenntnis, die es verspricht, nicht liefern.
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